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WEINBERG / GRÜNBERG
Die Westrhauderfehner Weinbergs
stammen aus dem Raum zwischen Wiehengebirge, Dümmer und
Osnabrück. Die übrigen Weinberg-Familien im hiesigen Raum
sind mit ihnen nicht näher verwandt.
Schon bei der Erfassung der jüdischen Familien des
Landdrosteibezirks Osnabrück im Jahre 1844 gab es in der
Synagogengemeinde Buer einen Baruch Zacharias Weinberg, der einem
Haushalt mit drei männlichen und fünf weiblichen Personen
vorstand.
Ein Mitglied dieser Familie war offenbar der Schlachter David Weinberg.
Er wohnte zeitlebens in diesem kleinen jüdischen Zentrum am
Wiehengebirge. Er war zweimal verheiratet. Seine erste Ehefrau Johanna
geborene Goldstein stammte aus Lage in Lippe/Detmold. Das Ehepaar hatte
sieben Kinder, von denen die beiden ältesten als Kleinkinder kurz
nacheinander starben: Jakob David, Carl Kalmann, Joseph, Salman/Sally,
Esther/Emma und Isaak.
Nach dem Tod von Frau Johanna verheiratete sich David Weinberg am 11.
8. 1875 in Buer mit Julie Silbermann, die aus Lemförde am
Dümmer stammte. Aus dieser zweiten Ehe gingen sieben Kinder
hervor: Levie, Minna, Baruch/Bernhard, Israel/Isidor/Julius,
Heinemann/Hermann, Alfred und Jakob.
Nach dem Ausbau der Eisenbahnlinie Rheine - Norddeich in den
fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts sahen sich zahlreiche Juden
aus dem Raum Münster-Osnabrück im nördlichen Emsland und
in Ostfriesland um, und einige fassten hier Fuß. So auch die
Weinbergs. Tochter Emma heiratete den Schlachter und Viehkaufmann Levie
Löwenstein aus Weener, Westerstraße 30.
Familie Bernhard Weinberg
Anlässlich der Besuche bei ihrer Schwester in Weener müssen
die jüngeren Weinberg-Brüder Bernhard und Alfred dort die
Familie Grünberg aus der Neuen Straße 49 kennengelernt
haben. Der Produktenhändler Abraham Hartog Grünberg hatte
vorher mit seiner Frau Frauke geb. Cohen und den zehn gemeinsamen
Kindern in Jemgum gewohnt, betrieb aber nun mit seinen erwachsenen
Söhnen einen Fell-, Schrott- und Viehhandel in der Neuen
Straße 47 in Weener (später:
Kommerzienrat-Hesse-Straße). Bernhard Weinberg heiratete am 28.
Oktober 1906 in Weener die Grünberg-Tochter Rahel.
Trauzeugen waren sein Schwiegervater Abraham H. Grünberg und sein
Schwager Levie Löwenstein. Das junge Ehepaar wohnte laut
Meldeliste zunächst über zwei Jahre in Buer. Dort wurde am 4.
3. 1907 auch die einzige Tochter Caroline Lilly geboren.
Doch der Seniorchef der Firma "A. Grünberg Söhne" in Weener
legte Wert darauf, dass seine Kinder sich möglichst in seiner
näheren Umgebung niederließen, damit sie auch weiterhin
geschäftlich zusammenarbeiten konnten. Da abzusehen war, dass Frau
Rahels drei jüngere Schwestern Maria, Caroline und Flora,
sowie die fünf Brüder Hermann, Aron, Philipp, Max und Wilhelm
auch bald eigene Familien gründen würden, sah sich
Schwiegervater Abraham Grünberg nach Möglichkeiten um, sein
Geschäft zu erweitern.
Als neuen Standort guckte er sich Westrhauderfehn aus. Dort war ein
Eisenbahnanschluss (Kleinbahn mit Normalspur) in der konkreten Planung,
und in dem aufstrebenden Ort gab es noch keinen jüdischen
Händler für Alteisen und Felle, sondern nur die
Viehhändler und Schlachter de Levie und Cohen. Es lohnte sich
also, dort zu investieren.
Der Schmiedemeister Johann Dirk Brunsema verkaufte ihm einen Bauplatz
mit einem Stück Land in einer hervorragenden Lage am Untenende und
Abraham Hartog Grünberg ließ darauf im Jahre 1909/10 ein
modernes geräumiges Haus bauen, im Fehntjer Stil mit einem
großen Hinterhaus.
Dorthin zogen Bernhard Weinberg und Frau Rahel mit Tochter Lilly und
Philipp Grünberg, der wie sein Schwager Bernhard Weinberg
zusätzlich zum Fell- und Schrotthandel noch als Viehkaufmann
tätig war. Im Jahre 1915, mitten im ersten Weltkrieg, bot Bernhard
Weinberg zum Beispiel mittels einer halbseitigen Anzeige im
Anzeiger für das Overledingerland einen ganzen Transport
ostpreußischer Pferde zum Verkauf an, bar und auf Zahlungsfrist.
Pferde waren damals gesucht, denn sie wurden im Krieg massig
verschlissen.
Die Familie war bald gut etabliert. Bernhard Weinberg engagierte sich
bei dem Männer-Turnverein Westrhauderfehn e.V. und kaufte im Jahre
1913 einen der Anteilscheine, die zum Aufbau eines Fonds zur Errichtung
einer Turnhalle vergeben wurden. Frau Rahel beschäftigte ein
Dienstmädchen wie damals in Geschäftshaushalten üblich,
und Tochter Lilly hielt sich gerne bei den Nachbarn Brunsema auf, die
eine Schmiede hatten, und deren halbflügge Töchter bei den
Weinbergs die Rolle der "Sabbat-Gojim" übernahmen, d.h. sie
verrichteten alle notwendigen Arbeiten wie Feuer machen, Licht ein- und
ausschalten und Essen aufwärmen, die Weinbergs selbst am Sabbat
nicht erledigen durften.
Im Jahre 1917 kam Bernhard Weinbergs Mutter Julie, die schon seit
vielen Jahren verwitwet war, für ein halbes Jahr von Buer nach
Westrhauderfehn, zu welchem Anlass sie sich ordnungsgemäß
beim Einwohnermeldeamt an- und abmeldete, denn so war es damals
vorgeschrieben und während des I. Weltkrieges auch notwendig, um
Lebensmittelkarten zu bekommen.
Irgendwann in der Zeit von 1914 bis 1918 musste Bernhard Weinberg auch
als Soldat in den Krieg ziehen. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das
ihn in Uniform zeigt. Zum Glück kehrte er unversehrt zurück.
Ein Jahr nach dem Ende des Krieges, am 29. 11. 1919, starb
Schwiegervater Abraham Hartog Grünberg in Weener. Die Firma "A.
Grünberg Söhne" wurde neu organisiert und in eine offene
Handelsgesellschaft umgewandelt, wie aus einer Grundbucheintragung von
1924 zu ersehen ist. Aron Grünberg wohnte mit seiner Familie in
Weener, Am Hafen 9. Hermann Grünberg zog nach seiner Heirat mit
Martha Schönthal aus Norden in die Feldstraße 8 (heute:
Risiusstraße). Philipp Grünberg verheiratete sich mit
Angelica Schaap aus Lathen und ließ sich in Leer in der
Gartenstraße (später: Reimerstraße) nieder und
eröffnete am 18.1. 1921 eine Viehhandlung. Wilhelm Grünberg,
der 1920 für ein paar Wochen in Westrhauderfehn wohnte, zog nach
Ihrhove, wo er sich gut ein Jahr aufhielt. Am 1. 3. 1922 meldete er
sich in Leer an und heiratete im November des gleichen Jahres Henny
Schaap aus Lathen. Das Paar übernahm das Haus in der Bremer
Straße 14a von Willy Cohen, der mit Maria Grünberg
verheiratet
war.
Leer war damals für Viehhändler sehr attraktiv, denn dort
entwickelte sich zu jener Zeit der größte wöchentliche
Viehmarkt in ganz Deutschland. Wenn man auf diesem Berufsfeld
erfolgreich sein wollte, war es vorteilhaft, dort auch zu
wohnen.
Bei der Witwe Frauke Grünberg geborene Cohen in der Neuen
Straße 49 in Weener verblieb bald nur noch der ledige Sohn Max,
denn Flora Grünberg, Rahels jüngere Schwester, heiratete am
11. Januar 1920 in Weener Bernhard Weinbergs Bruder Alfred, der aus dem
Krieg zurückgekehrt war und schon im November 1919 von Buer nach
Westrhauderfehn zog, um dort die reibungslose Übergabe des
Geschäfts abzuwickeln, das er mit Frau Flora übernehmen
wollte. Dafür zog Bernhard Weinberg mit Frau Rahel und Tochter
Lilly 1920 dann von Westrhauderfehn nach Weener in die Neue
Straße 51 neben das schwiegerelterliche Haus.
Das Geschäft in der Neuen Straße 47, Telefon-Nr. 211, wurde
noch um einen Textilhandel erweitert. Die Grünbergs und Weinbergs
in Weener waren angesehene Leute. Im Visitationsbericht des
Landesrabbiners von Emden an die Regierung in Aurich vom 9. 7. 1927
steht zu lesen, dass sowohl Bernhard Weinberg als auch sein Schwager
Aron Grünberg Mitglieder des Repräsentantenkollegiums der
Synagogengemeinde Weener
waren.
Gegen Ende der zwanziger Jahre hielten es die Grünberg-Söhne
für vorteilhafter, die Firma zu splitten und mit dem erworbenen
Anteil in Zukunft eigenverantwortlich Geschäfte zu tätigen.
Die Firma "A.Grünberg Söhne" wurde 1929 aufgelöst.
Philipp Grünberg kaufte in Leer das Haus Reimerstraße 6
neben der Bahn. Wilhelm Grünberg eröffnete am 1. 4. 1927 ein
eigenes Viehhandelsgeschäft in seinem Haus in der Bremer
Straße 14a. Hermann Grünberg erhielt das Anwesen in
Westrhauderfehn am Untenende überschrieben, wo seine Schwester
Flora und sein Schwager Alfred Weinberg ihr Geschäft betrieben. Er
selbst siedelte mit seiner Familie nach Leer über, in die Bremer
Straße 13, und eröffnete dort am 15. 1. 1933 einen
Viehhandel. Aron Grünberg zog mit seiner Familie auch von Weener
weg. Max Grünberg und Bernhard Weinberg blieben im Stammhaus in
Weener, handelten aber offensichtlich jeweils auf eigene Rechnung, denn
am 11. Oktober 1927 wurde zwischen Bernhard Weinberg und seiner Ehefrau
Rahel eine notarielle Gütertrennung
vereinbart.
Mit Beginn der NS-Zeit 1933 war es mit der heilen Welt bald vorbei. Die
Geschäfte gingen nach und nach immer schlechter. Im Jahre 1935
wurde der Betrieb in Weener in der Kommerzienrat-Hesse-Straße in
einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung noch als
jüdisches Geschäft aufgeführt, und sowohl Max
Grünberg als auch Bernhard Weinberg wurden als jüdische
Viehhändler bezeichnet, was den Schluss zulässt, dass sie um
diese Zeit hauptsächlich Viehhandel betrieben.
Tochter Lilly muss als junge Frau eine Zeit lang in Frankfurt gewohnt
haben, denn dort wurde am 5. 10. 1935 ihre Tochter Annemarie Rosel
geboren. Während der folgenden Jahre kehrte sie jedoch nach Weener
in ihr Elternhaus zurück. Nun wohnten im Hause
Weinberg/Grünberg in der Kommerzienrat-Hesse-Straße Urahne,
Großmutter, Mutter und Kind unter einem Dach vereint. Doch die
Idylle trog.
Am 3. 2. 1937 verstarb Schwiegermutter Frauke Grünberg geborene
Cohen in
Weener.
Das neue Gesetz der NS-Regierung vom 6. Juli 1938 zur Änderung der
Gewerbeordnung für das Deutsche Reich entzog vielen jüdischen
Firmen die Betriebserlaubnis. Für die Viehhändler bedeutete
das Einziehen der Wandergewerbescheine und Legitimationskarten eine
schwerwiegende Behinderung in ihrer Berufsausübung. Sie durften
nur noch in ihrem Wohnort, dem Ort ihrer Zulassung, mit Vieh handeln.
Die Firma von Max Grünberg und Bernhard Weinberg in Weener konnte
von nun an kein Stück Vieh mehr von den Bauern kaufen, denn die
wohnten ja in den umliegenden Dörfern und nicht in der Stadt.
Außerdem durften sie den Viehmarkt in Leer jetzt nicht mehr
beliefern. Die Firma musste aufgegeben werden, und das Haus wurde
"arisiert". Max Grünberg zog Anfang November 1938 nach Bremen in
die Isarstraße 33 zu seiner ältesten Schwester Rosa, deren
Ehemann, der Produktenhändler Adolf Grünberg, schon im
Dezember 1933 verstorben
war.
Die Familie Weinberg blieb zunächst noch in Weener und wohnte Am
Hafen 26. Bernhard Weinberg betrieb heimlich einen Hausierhandel mit
Kurzwaren und Kleintextilien, um den Lebensunterhalt für seine
Familie zu sichern. Er suchte Bekannte auf und verkaufte ihnen ab und
zu einige Kleinigkeiten, unter anderem bot er auch seiner früheren
Nachbarin aus Westrhauderfehn, Grete Janssen geborene Brunsema, seine
Waren
an.
Im Zuge des Judenpogroms am 9./10. 1938 wurde Bernhard Weinberg mit
anderen jüdischen Männern mittels Lastwagen nach Leer in den
neuen Viehhof gebracht und von dort mit einem Güterzug ins KZ
Sachsenhausen deportiert. Wann genau er zu seiner Familie
zurückkehren konnte, ist nicht überliefert.
Als 1940 alle Juden auf Anordnung der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven
Ostfriesland verlassen mussten, zog Bernhard Weinberg mit Frau Rahel
und Tochter Lilly sowie Enkelin Rosel ebenfalls nach Bremen, denn
außer Frau Rahels Bruder Max und ihrer Schwester Rosa mit Familie
wohnten dort noch weitere entfernte Verwandte aus der weitverzweigten
Grünberg-Familie. Familie Weinberg fand eine bescheidene
Unterkunft in Bremen-Blumenthal in der Wilhelmstraße 9 (heute:
Cord-Steding-Straße 9). Laut Auskunft von Wiltrud Ahlers aus
Blumenthal gehörte das Haus Familie Spingelt. Dieses Ehepaar lebte
in einer "Mischehe", wie es damals hieß. Moritz Spingelt (* 23.
12. 1862 Marmorfüss) war "Arier" und seine Frau Rosalie geborene
Herz (* 10.5. 1862 Grohn) war Jüdin. Da die Eheleute sich nicht
scheiden lassen wollten, mussten Moritz Spingelt und seine Söhne
an verschiedenen Orten Zwangsarbeit leisten, unter anderem auch beim
Bunkerbau in Bremen-Farge.
Unglücklicherweise befanden sich im Nachbarhaus der Spingelts die
Blumenthaler Zentrale der NSDAP und der Treffpunkt der Hitlerjugend
(HJ). Es scheint in der Wilhelmstraße jedoch auch Familien
gegeben zu haben, die gegenüber den Juden keine
Berührungsängste hatten. Eine Nachbarin erinnert sich, dass
sie als Kind mit Rosel Weinberg gespielt hat. Diese hatte ein
Puppenbett, das ihr Großvater Bernhard Weinberg aus alten
Bettfedern (Spiralfedern?) zusammengebaut hatte. Die Spielkameradin
hätte selbst auch gerne so eins gehabt und war froh, dass sie es
ab und zu im Tausch gegen ein anderes Spielzeug für eine Weile
ausleihen durfte. Als Rosel eines Tages plötzlich weg war, wollte
ihr niemand sagen, wohin sie gegangen war.
Wie die Weinbergs in Bremen ihren Lebensunterhalt verdient haben,
lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es ist gut möglich,
dass Bernhard Weinberg und auch Tochter Lilly zu einer Arbeit
abkommandiert wurden. Es wurde für die Juden ohnehin Tag für
Tag mühseliger, das Leben zu meistern, da sie seit Ende des Jahres
1938 durch immer neue Verordnungen mehr und mehr von der
Normalität des Alltags ausgeschlossen wurden. Das Tragen des
gelben Sterns in der Öffentlichkeit ab dem 15. September 1941
bedeutete eine weitere Ausgrenzung und Stigmatisierung.
Am 24. Oktober 1941 ordnete der Chef der Ordnungspolizei im
Reichssicherheitshauptamt, Daluege, in einem Schnellbrief an, dass "vom
1. November bis zum 4. Dezember 1941 ... aus dem Altreich, der Ostmark
und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50 000 Juden nach dem
Osten in die Gegend um Riga und Minsk abgeschoben" werden sollten, und
zwar in Transportzügen zu je 1000 Personen; als Ausgangsorte
wurden u.a. auch Hamburg, Bremen und Düsseldorf genannt.
Die 440 Bremer Juden mussten sich am 18. November 1941 zwischen sechs
und sieben Uhr morgens an vorgegebenen Stellen sammeln und wurden dann
von Uniformierten zum Lloydbahnhof gebracht. Sie durften pro Person nur
einen Koffer mit 50 kg Bekleidung, Bettwäsche oder Schuhe und
für vier Tage Proviant mitnehmen. Die Wohnung musste in einem
ordnungsgemäßen Zustand hinterlassen und der Schlüssel
bei der Polizei abgeliefert werden. Während sie auf den
Transportzug aus Hamburg warteten, mussten sie eine Erklärung
unterschreiben, dass sie Feinde der Deutschen Regierung und deshalb ab
November 1941 staatenlos seien und somit kein Anrecht mehr auf ihr
zurückgelassenes Eigentum hätten.
Unter diesen Bremer Juden am Lloydbahnhof befanden sich laut den
Transportlisten der Jüdischen Kultusgemeinde Bremen auch die
Mitglieder der Familie Weinberg aus der Wilhelmstraße 9 in
Blumenthal: Herr Baruch, Frau Rahel, Tochter Caroline Lilly und
Enkelkind Annemarie. Max Grünberg war zu dieser Zeit schon nicht
mehr am Leben. Auf ihren Abtransport am Lloydbahnhof warteten ebenfalls
Hugo Grünberg und seine Frau Klara geborene Israel, Sohn und
Schwiegertochter der ältesten Grünberg-Schwester Rosa. Diese
selbst und ihre Tochter Marianne sowie ihr Schwiegersohn Carl Katz und
ihre Enkeltochter Ingeborg Berger konnten noch vorläufig in
Bremen-Blumenthal in der Parkstraße 1 bleiben. Sie wurden am
23.7. 1942 nach Theresienstadt deportiert.
Am Abend vor dem Abtransport klopfte Rahel Weinberg im Schutze der
Dunkelheit bei einem Nachbarn in der Wilhelmstraße ans Fenster
und bat um etwas Warmes zum Anziehen, denn Kleiderkarten für den
Kauf von Textilien gab es für Juden nicht. Sie erhielt zwei warme
Strickjacken. Kurze Zeit später kam sie noch einmal zurück
und überreichte sechs silberne Teelöffel mit Monogramm als
Dank. Fünf Teelöffel sind noch heute im Besitz der Familie,
einer wurde während des Krieges zu einem Armband umgearbeitet. Das
erfuhr Wiltrud Ahlers von einer alten Nachbarin aus der heutigen
Cord-Steding-Straße.
Das Transportziel Minsk war den wartenden Juden am Lloydbahnhof nur
gerüchteweise bekannt. Sie rechneten damit, irgendwo in den
besetzten russischen Gebieten in einem Arbeitslager angesiedelt zu
werden. Nathan Felczer, dessen Tochter in Bremen bleiben konnte, weil
sie in einer "Mischehe" verheiratet war, hatte frankierte Postkarten
mitgenommen, von denen drei sogar ordnungsgemäß in Bremen
ankamen, so dass die Reiseroute über Krenz, Warschau und
Baronowitschi - etwa 150 km vor Minsk - nachvollzogen werden kann.
In Minsk wurde der Transport von der SS mit Peitschen-und
Gewehrkolbenhieben sowie wüsten Beschimpfungen empfangen und dann
in das mit etwa 100 000 Juden aus der Sowjetunion völlig
überfüllte Ghetto getrieben. Kurz bevor die ersten Transporte
ankamen, hatte man dort mit Stacheldraht einen Teil abgetrennt und so
für die deutschen Juden eine Art Sonderghetto geschaffen. Die hier
zuvor wohnenden etwa 7000 Menschen waren in der ersten Novemberwoche
einfach erschossen worden.
Da viele der Toten noch in den Wohnungen lagen, mussten die
Ankömmlinge aus Bremen und Hamburg die erste Nacht und den
nächsten Tag draußen verbringen bei 25° Kälte,
während einige von ihnen abkommandiert wurden, die Leichen
wegzubringen und die Wohnungen zu säubern. Das berichtete Richard
Frank, einer der wenigen überlebenden Bremer nach der NS-Zeit.
Ebenfalls ins Ghetto Minsk deportiert wurden die Familien von Frau
Rahels Brüdern Philipp und Wilhelm Grünberg, die seit der
Vertreibung der Juden aus Ostfriesland im Frühjahr 1940 in Essen
wohnten. Sie mussten am 10. November 1941 in Düsseldorf den
Transportzug besteigen. Ob die Geschwister sich noch vor der
Deportation benachrichtigen konnten oder ob sie sich im Ghetto Minsk
später getroffen haben, wissen wir nicht. Obwohl den einzelnen
Transporten nach Herkunftsorten abgegrenzte Wohngebiete im Sonderghetto
zugewiesen wurden, waren diese nicht durch Stacheldraht voneinander
getrennt, so dass Kontakte möglich waren. Es war für die
Weinbergs und Grünbergs sicherlich tröstlich, in einer so
schweren Zeit mit den Verwandten gewissermaßen ein kleines
Stückchen Heimat bei sich zu haben.
Im Ghetto gab es weder Elektrizität noch Heizmaterial. Und das in
dem besonders kalten Winter 1941/42! Wasser konnte nur aus wenigen
Brunnen geholt werden und zu essen gab es außer einer dünnen
Suppe kaum etwas. Tagsüber wurden die Frauen und Männer im
arbeitsfähigen Alter zu schwerer körperlicher Arbeit
abkommandiert.
Infolge dieser katastrophalen Umstände starben schon viele
Menschen während der ersten Wochen. Wer bis zum Frühjahr
überlebt hatte, fiel später einer der vielen
Liquidierungsaktionen zum Opfer. Die Bewohner ganzer
Straßenzüge wurden dann zusammengetrieben und am Rande
großer Massengräber erschossen oder in Spezialfahrzeugen
vergast, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Insgesamt sind im
Ghetto Minsk etwa 135 000 Menschen umgebracht worden.
Eine der größten Massenmordaktionen im Ghetto Minsk fand am
28. und 29. Juli 1942 statt. Dabei mussten über 10 000 Menschen
ihr Leben lassen, auch viele Bremer Juden. Unter den Opfern war laut
Auskunft des Bundesarchivs Koblenz auch Rahel Weinberg geb.
Grünberg. Wann genau Ihr Ehemann Bernhard Weinberg, ihre Tochter
Lilly und ihre Enkeltochter Rosel umgekommen sind, kann niemand sagen.
Fest steht jedenfalls, dass von den 440 Bremer Juden, die am 18. 11.
1941 ins Ghetto Minsk deportiert wurden, nur sechs überlebt haben.
Im September 2008 wurden vor dem Haus in der Cord-Steding-Straße
9 in Bremen-Blumenthal zur Erinnerung an die Familie Weinberg vier
Stolpersteine gesetzt.
Familie
Alfred Weinberg
Alfred Weinberg war hauptberuflich Viehhändler, kannte sich aber
auch damit aus, Tiere koscher zu schlachten. Er war in seinen jungen
Jahren im westfälischen Raum viel herumgekommen, denn aus der
Meldeliste von Buer ist zu ersehen, dass er zeitweise in Bielefeld,
Herford und Schöttmar wohnte und arbeitete.
Nachdem er unversehrt aus dem I. Weltkrieg zurückgekehrt war,
meldete er sich bald nach Ostfriesland ab, denn in Weener wohnte seine
Schwester Emma. Ihre Familie hatte er schon von Kind an ab und zu
besucht und dabei sicherlich auch Flora Grünberg kennengelernt,
die Schwägerin seines Bruders Bernhard, der mit seiner Familie in
Westrhauderfehn wohnte.
Am 11. 1. 1920 wurden Alfred Weinberg und Flora Grünberg ein
Ehepaar.
Da die Firma "A. Grünberg Söhne" nach dem Tod des Seniorchefs
gerade neu organisiert wurde, wechselte Bernhard Weinberg mit Familie
nach Weener und Alfred und Frau Flora etablierten sich gleich nach
ihrer Heirat in Westrhauderfehn. Sie setzten sich sozusagen "ins
gemachte Nest", denn sie konnten alle Geschäftsverbindungen
übernehmen, die ihre Geschwister seit 1910 geknüpft hatten.
Hatte Bernhard Weinberg das Geschäft noch mit den ledigen
Grünberg-Brüdern Philipp und Wilhelm gemeinsam aufgebaut und
betrieben, wie aus dem Adressbuch von 1910 und aus der Mitteilung auf
einer Postkarte von Viehhändler Julius Frank aus Leer an Frau
Poppen in Ostrhauderfehn von 1912 zu ersehen ist, so geht aus dem
Adressbuch von 1926 klar hervor, dass Alfred Weinberg das Geschäft
jetzt allein führte, was nicht bedeutete, dass er nicht mit seinem
Bruder Bernhard aus Weener und seinen Grünberg-Schwagern aus Leer
eng zusammenarbeitete. Diese nannten damals schon einen großen
Viehtransporter mit Außenschaltung ihr eigen. Damit holten sie ab
und zu Großvieh bei Alfred Weinberg ab; daran erinnert sich
jedenfalls Kapitän Hermann Buß, der bis 1927 in dem
Harmschen Haus nebenan wohnte.
Laut Schmiedemeister Brunsema, der ein gutnachbarschaftliches
Verhältnis zu Alfred Weinberg hatte, wurde der nach einiger Zeit
ziemlich wohlhabend. Trotzdem war er sich nicht zu schade, auch kleine
Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen, und wenn es der Kater der
Familie Reents aus Ostrhauderfehn war, den er unentgeltlich mitnehmen
konnte. Um bei seinen oft einfachen Geschäftspartnern keine
übertriebenen finanziellen Begehrlichkeiten zu wecken, stellte er
seinen bescheidenen Reichtum nicht zur Schau, sondern fuhr mit einem
alten Fahrrad zu seiner Kundschaft.
Bei den Weinbergs stellte sich bald Kindersegen ein: Am 23. 8. 1922
wurde Diedrich geboren - Dieter gerufen -, am 14. 11. 1923 Frieda -
Friedel genannt - und am 7. 3. 1925 Albrecht - von seinen
Spielkameraden später auch Alwin gerufen.
Frau Flora beschäftigte ein Kindermädchen, Anni Lüdemann
aus Leer, bis zum Sommer 1923, und bereits im Januar 1923 zog eine
junge Verwandte ihres Mannes, Johanna Weinberg (* 13. 2. 1899 in
Ennigloh), zu ihnen nach Westrhauderfehn. Sie meldete sich als
Pensionärin auf dem Einwohnermeldeamt an und blieb bis zum 25. 9.
1924, als sie sich nach Ahle bei Herford verabschiedete. Ansonsten
gehörte laut Auskunft der ehemaligen Nachbarin Agathe Helling geb.
Brunsema noch eine Eggeline Meyer aus Rhaudermoor zu den
Haushaltshilfen. Sie soll auch die Rolle des "Sabbatgois" wahrgenommen
haben.
Neben dem Vieh-, Fell- und Schrotthandel betrieben die Weinbergs, wie
alle Viehhändler damals, auch eine kleine Landwirtschaft. Dini
Schustereit geb. Saadhoff aus der Nachbarschaft erinnerte sich, dass
sie früher bei Weinbergs Milch holte wie sicherlich auch noch
andere Nachbarn. Agathe Helling hatte noch bis ins hohe Alter die
vielen Hühner und die von Eiern überquellenden Nester vor
Augen. Alfred Weinberg bekam bei seinen Geschäften oft ein Huhn
"up Koop toe".
Zusätzlich zu ihrem eigenen Grundstück hatten Weinbergs noch
ein Stück Weideland und eine große Streuobstwiese von dem
Auktionator Conrad Graepel am Rajen gepachtet. Therese Luikenga
geborene Schulna wohnte dort in der Nähe. Sie erinnert sich, dass
die Weide eingezäunt war, während unter den Apfelbäumen
einzelne Kühe oder auch Schafe angepflockt waren. Manchmal kam es
vor, dass sich ein Tier mit dem Tau zwischen den Bäumen
verhedderte, dann wurde Therese von ihrer Mutter zu Weinbergs
geschickt, um sie darüber in Kenntnis zu setzen.
Dass Alfred Weinberg nicht nur ein erfolgreicher Viehhändler war,
sondern auch sehr viel von Tieren verstand, lässt sich aus einer
Begebenheit schließen, die sich zu Beginn der 1930er Jahre
zugetragen hat und an die sich Johannes Lücht noch bis ins hohe
Alter erinnert: Als eines Tages Lüchts einzige Kuh kalbte, blieb
das verhältnismäßig große Kalb stecken und
ließ sich nicht wie üblich herunterziehen. Der
herbeigerufene Tierarzt fand auch keine Lösung und schlug als
letzten Ausweg vor, das Kalb abzuschneiden, um so die Kuh zu retten.
Bevor es dazu kam, wurde Johannes Lücht von seiner Mutter zu
Alfred Weinberg geschickt. Der kam auch gleich zusammen mit seinem
Bruder Bernhard und sah sich die Kuh an. Beide Weinberg-Brüder
stellten die Kuh so hin, dass sie ihren Rücken ganz krumm machen
musste und nach kurzer Zeit ließ sich das benommene Kalb langsam
herunterziehen. Nachdem Alfred Weinberg ihm einen Eimer kaltes Wasser
über den Kopf gegossen hatte, wurde es quietschlebendig und konnte
abgerieben werden.
Die drei Weinberg-Kinder besuchten alle die heutige Sundermannschule am
Untenende, und Dieter wurde nach der Grundschulzeit in die Mittelschule
Westrhauderfehn aufgenommen (heute: Kreisrealschule Overledingerland).
Sie waren Untenendjer Kinder wie andere auch, und wie alle echten
Fehntjer Jungen brach Albrecht eines Tages auf dem zugefrorenen Kanal
ins Eis ein und musste herausgezogen werden. Daran erinnert sich noch
Johannes Lücht aus der Nachbarschaft. Die Weinbergs sprachen
plattdeutsch wie die meisten Leute damals und unterschieden sich nur in
ihrer Religion von den übrigen Fehntjern.
Hildegard Albert geb. Ulpts aus der Dr.-Leewog-Straße wohnte bis
1932 in der Nachbarschaft der Weinbergs. Sie ging mit Friedel und
Albrecht zur Schule und spielte oft mit ihnen. Sie erinnert sich, dass
Mutter Flora am Sabbat wohl zu ihr sagte: "Kannst du uns wall 'n
Stückje Törf in't Obend leggen?"
Anlässlich hoher jüdischer Feiertage und manchmal auch zum
Sabbat fuhren die Weinbergs mit der Eisenbahn über Ihrhove
nach Weener zu ihren Verwandten. Die Nachbarn Brunsema versorgten dann
das Vieh und molken die Kühe. Als Entgelt durften sie die Milch
behalten. In Weener besuchte Familie Weinberg dann die Synagoge und
Dieter und Albrecht feierten dort auch ihre Bar Mizwa, als sie das
dreizehnte Lebensjahr vollendet hatten. Der Besuch bei der
Großmutter Frauke Grünberg geb. Cohen in der
Kommerzienrat-Hesse-Straße wurde für die heranwachsenden
Weinberg- Kinder im Laufe der Jahre zur lieben Gewohnheit, und Weener
wurde gleichsam zur zweiten Heimat. Friedel und Albrecht Weinberg
erinnern sich auch heute noch gern daran.
Nach Hitlers "Machtergreifung" am 30. 1. 1933 gehörte diese Zeit
des friedlichen Zusammenlebens bald der Vergangenheit an. Nicht nur in
der großen Politik wurden neue Akzente gesetzt, sondern auch hier
auf dem Fehn wurde die Bevölkerung lautstark und mit hektischer
Betriebsamkeit
darauf aufmerksam gemacht, dass andere Zeiten angebrochen waren.
Im April 1933, während der Tage des Boykotts jüdischer
Geschäfte, erschien der junge Bahns vom Hotel Frisia in SA-Uniform
bei Weinbergs und forderte die Herausgabe der Schächtmesser, die
Alfred Weinberg bisher zum koscheren Schlachten für den
Eigenbedarf benutzt hatte. Das Schächten wurde in Deutschland
verboten, und wie in vielen anderen Städten wurden auch in Leer
die Schächtmesser öffentlich verbrannt.
Gegenüber Weinbergs Haus, wo der Untenendjer Kanal einen Knick in
Richtung Schleuse, Mühle und Verlaatshaus macht, befand sich
früher Harms Helgen. Auf diesem Gelände stand später die
Drogerie Prahm. Das winzige dreieckige Grundstück davor am
Ortsausgang Richtung Ostrhauderfehn gehörte der Gemeinde. Heute
überquert dort der Radweg die Bundesstraße 438 mitten durch
das Blumenbeet. Diese Stelle erkoren sich die lokalen
NS-Größen gleich im Frühjahr 1933 für ihre
parteipolitischen Aktivitäten aus: Sie richteten das kleine
Grundstück her und nannten es "Adolf-Hitler-Platz".
Selbstverständlich gab es eine offizielle Einweihung mit
Aufmärschen, Fahnen, Schildern und dem üblichen Medienrummel.
Wie zu erwarten, hatten Weinbergs unter der Nähe zu dieser neuen
NS-Einrichtung zu leiden. Schon während der Herrichtung des
Platzes klopften NS-Leute bei ihnen an die Tür oder an die Fenster
und machten ihnen Angst. Da in den Monaten und Jahren danach dieser
Platz bei besonderen Anlässen meistens ein Ziel-oder Ausgangspunkt
für Aufmärsche war, musste die Familie Weinberg jedes Mal mit
diesen Belästigungen und Bedrohungen leben. Am Tage der Einweihung
kam eine Abordnung und bot ihnen zwei Freikarten für
Palästina an. "Hätten wir sie man genommen", sagen Albrecht
und Frieda Weinberg heute.
Obwohl sie noch Kinder waren, bekamen Dieter, Friedel und Albrecht auch
schon bald die Folgen der NS-Judenhetze zu spüren. Die
Spielkameraden und Mitschüler zogen sich nach und nach
zurück. Für viele von ihnen waren sie jetzt bloß noch
"olle Jöden", Kinder zweiter Klasse, mit denen man nicht mehr
gerne etwas zu tun haben wollte und auf die man keine Rücksicht
mehr zu nehmen brauchte. Die neuen Organisationen, seien es die
"Pimpfe" oder die "Jungmädel", bei denen viele Klassenkameraden
begeistert mitmachten, waren ohnehin für Juden verboten. Die
beiden Jungen von der Drogerie Prahm aus der Nachbarschaft, die bisher
zu den Spielkameraden der Weinberg-Kinder gehört hatten, wollten
nichts mehr von ihnen wissen. Sie spuckten sie jetzt an und warfen
eines Tages sogar mit Steinen nach ihnen. Dieter, Friedel und
Albrecht waren auf dem Fehn bald völlig isoliert und
verstanden die Welt nicht mehr. Es muss für sie sehr schmerzlich
gewesen sein, dass sie von ihren Mitschülern und auch von einigen
Lehrern mehr und mehr drangsaliert und ausgegrenzt wurden.
Eine neue Hiobsbotschaft für die Weinbergs war die Verfügung
über die Rassentrennung an den Schulen vom 10. 9. 1935. Diese
Regelung wurde ab 1936 in den einzelnen Gemeinden umgesetzt. Dieter
musste bald darauf die Mittelschule in Westrhauderfehn verlassen und
seine Schullaufbahn aufgeben. "Weinberg, pack deine Sachen und geh nach
Hause! Du hast hier nichts mehr zu suchen," hieß es eines Tages,
erinnert sich Johannes Lücht. Da Dieter seine achtjährige
Schulpflicht erfüllt hatte, begann er eine kaufmännische
Lehre in Emlichheim im Kreis Grafschaft Bentheim.
Friedel und Albrecht mussten nun die jüdische Schule in Leer
besuchen. Diese bis dahin einklassig geführte Einrichtung war auf
den plötzlichen Schüleransturm aus allen Teilen des
Landkreises gar nicht eingerichtet und bald hoffnungslos
überfüllt. Obwohl die israelitischen Lehrer Popper und
später Spier und Hirschberg ihr Bestes versuchten, fehlte es an
allen Ecken und Enden, denn die Stadt Leer, die für die
sächlichen Kosten der Schule aufzukommen hatte, reduzierte ab 1936
die finanziellen Zuwendungen von bisher 1 100 RM jährlich auf 400
RM. Das Lehrergehalt wurde allerdings wie bei anderen Schulen vorerst
weiter vom Staat bezahlt.
Die Weinberg-Kinder konnten nun während der Woche nicht mehr bei
ihren Eltern in Westrhauderfehn wohnen, denn der Schulweg war zu weit,
und bei einer täglichen Fahrt mit der Kleinbahn nach Leer
hätten sie zu viele Pöbeleien der Mitreisenden über sich
ergehen lassen müssen. Außerdem wäre es ihren Eltern
schwer gefallen, das Geld für die Fahrkarten aufzubringen, denn
die Geschäfte gingen in diesen Jahren schon spürbar
schlechter.
Wie gut war es deshalb, dass sie Verwandte und gute Bekannte in Leer
hatten! Albrecht wohnte jetzt während der Woche bei seinem Onkel
und seiner Tante, Willy Cohen und Maria geb. Grünberg, in der
Bremer Straße 70. Dort konnte er mit seinem gleichaltrigen Cousin
Alfred spielen. Sein Vetter Dago und seine Cousinen Frieda und
Resi waren zu der Zeit schon erwachsen. Friedel kam bei Bekannten
unter, im Hause des Viehhändlers Albert Frank in der Bremer
Straße 64, in der Nachbarschaft von ihrem Bruder Albrecht. Obwohl
ihre Gastfamilien es sicher nicht an liebevoller Fürsorge fehlen
ließen, hatten Albrecht und Friedel natürlich Heimweh nach
Vater und Mutter und nach ihrem Zuhause auf dem
Fehn.
Gleich zu Beginn der NS-Zeit, im April 1933, gab es eine Aktion
"Boykott der jüdischen Geschäfte". SA-Leute stellten sich ein
paar Tage lang vor die jüdischen Läden und wollten die Kunden
vom Einkaufen abhalten, um den Juden auf diese Weise
Verdienstausfälle zu bescheren. Auf diese Weise hoffte man,
die Juden auf lange Sicht zum Auswandern bewegen zu können, da die
Käufer ausblieben. Diese Hoffnung der NS-Regierung ging aber in
der Branche des Viehhandels im nordwestdeutschen Raum so bald nicht in
Erfüllung, denn ohne die jüdischen Viehhändler wäre
die gesamte Infrastruktur des Viehhandels zusammengebrochen, da die
Juden in dieser Branche fast ein Monopol hatten. Obwohl der
agrarpolitische Fachberater der NSDAP, W. Voß, schon am 5. April
1933 im Anschluß an den Viehmarkt in Leer im Centralhotel einen
nationalsozialistischen Viehhändlerverband gründete, zu dem
Juden selbstverständlich keinen Zutritt hatten, setzten die
meisten Bauern einstweilen ihre Geschäfte mit den Juden fort,
zumal ihnen deren Geschäftsusancen besser gefielen als die
Praktiken vieler nichtjüdischer Händler.
Das änderte sich erst 1935, als die Juden durch die
"Nürnberger Gesetze" zu Menschen minderen Rechts gemacht wurden.
Es war zwar noch nicht verboten, mit Juden Geschäfte zu machen,
aber zwei Jahre antijüdische Hetze übelster Sorte und zwei
Jahre "Gleichschaltung" aller Medien und gesellschaftlicher Gruppen mit
entsprechender Einschüchterung der Abweichler wirkten sich nach
und nach sehr negativ auf die Geschäfte der Juden aus. Auch
gutwillige Leute scheuten sich davor, im "Stürmerkasten" als
Judenknechte angeprangert zu werden und sahen sich nach Alternativen
um. Und die gab es mittlerweile auch im Viehhandel, denn die
NS-Regierung hatte das Bezugs- und Absatzgenossenschaftswesen im
ländlichen Raum in der Zwischenzeit stetig ausgebaut.
Auch beim Vieh-, Fell- und Schrotthändler Alfred Weinberg in
Westrhauderfehn liefen die Geschäfte nicht mehr richtig. Es wurde
kaum noch etwas verdient. Johann Korrelvink aus Ostrhauderfehn, der
1936 bei der Firma Wilhelm Olligs im Westrhauderfehner Untenende eine
kaufmännische Lehre begann, erinnert sich, dass Dieter Weinberg
dort damals ab und an nur noch 50 Pfund Kohlen für den
häuslichen Bedarf einkaufte und sie mit dem Eimer zu seinen Eltern
nach Hause trug. Am 20. Juli 1935 machte die Ostfriesische Tageszeitung
in einer Hetzbeilage die Leser noch einmal ausdrücklich darauf
aufmerksam, dass das Produkten- und Viehgeschäft von A. Weinberg
in Westrhauderfehn ein jüdisches Geschäft sei. Im Januar 1936
sahen sich die Grünbergs und Weinbergs gezwungen, ihr Haus mit
Grundstück in Westrhauderfehn an den Schiffsmakler und
Werftbetreiber Harm Schaa von der Witten Hülle am Hauptfehnkanal
weit unter Preis zu verkaufen. Ein Teil des Kaufpreises wurde als
Hypothek eingetragen und sollte erst 1941 mit 5% Zinsen an die drei
Schwager von Hermann Grünberg ausgezahlt
werden.
Da Friedel und Albrecht in Leer die Schule besuchten, guckten sich
Flora und Alfred Weinberg dort nach einer Wohnung um. Sie scheinen
nicht auf Anhieb eine gefunden zu haben, denn offensichtlich haben sie
nach dem Verkauf ihres Hauses am Untenende noch für eine
Übergangszeit auf der Witten Hülle gewohnt. Bei ihrer
Anmeldung in Leer am 22. 8. 1936 gaben sie jedenfalls als Herkunftsort
Rhaudermoor an und nicht Westrhauderfehn. Die Familie war letztendlich
heilfroh, dass sie eine kleine gemeinsame Hinterwohnung im Hause des
Viehhändlers Polak in der Bremer Straße 62 beziehen konnte.
Obwohl sie einen Teil ihrer Möbel im Kuhstall unterstellen
mussten, weil in der Wohnung nicht genug Platz vorhanden war, freuten
sich doch alle, wieder beisammen zu sein. Am 23. Juni 1937 kam dann
auch Dieter von Emlichheim wieder nach Hause.
Um diese Zeit lebten die meisten jüdischen Familien nur noch von
ihrer Substanz und hofften auf bessere Zeiten. Etliche wagten auch im
Ausland einen Neuanfang, vor allem in Holland, denn für Juden mit
niederländischer Staatsangehörigkeit waren die
Ausreisebedingungen 1936 noch vergleichsweise günstig. Es gab ein
Abkommen zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der
niederländischen Regierung, dass diese Juden bis zu 40 000 RM zum
Aufbau einer neuen Existenz transferieren konnten. Dieses
Transferabkommen endete allerdings am 31. März 1937. Juden mit
deutschem Pass durften in der Regel nur ihre Möbel mitnehmen und
bis zu 2000 RM Bargeld, wenn es ihnen gelang, alle Unterlagen für
die Auswanderung zu beschaffen. Auch wenn die Zentralstelle für
jüdische Auswanderer in Berlin bei der Koordination behilflich
war, warteten viele Ausreisewillige vergeblich auf ein Einreisevisum,
denn wie in den meisten europäischen Ländern neigte man auch
in Holland mehr und mehr dazu, sich gegen die ständig
anschwellende Flut der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland
abzuschotten.
Da Weinbergs keine Möglichkeit sahen, mit ihren geringen Mitteln
in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen, und sie auch keine
Verwandtschaft in Holland hatten, die sie in der Übergangszeit
hätte unterstützen können, wie ein paar andere hiesige
jüdische Familien, blieben sie in Leer und hofften auf bessere
Zeiten.
In der Pogromnacht am 9. November 1938, der sogenannten
"Kristallnacht", wurde auch den letzten Juden mit einem Schlag klar,
dass man auf eine Besserung der Verhältnisse in Deutschland in
absehbarer Zeit nicht mehr hoffen konnte. Überall in Deutschland
und dem inzwischen angeschlossenen Österreich brannten in dieser
Nacht und am folgenden Tag die Synagogen, und zahlreiche Geschäfte
und Wohnhäuser wurden geplündert und demoliert. Was als
spontaner "Volkszorn" ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine
gezielt vorbereitete Aktion der NS-Regierung.
Auch in Leer brannte unter Anleitung von Bürgermeister Drescher
bald die große Synagoge an der Heisfelder Straße. Die
jüdischen Familien wurden aus den Häusern geholt und auf die
Nesse zum Viehhof getrieben.
Unter ihnen war auch die Familie Weinberg aus der Bremer Straße
62. Die vierzehnjährige Friedel hatte ein paar Wochen zuvor, im
August 1938, gerade ihre erste Arbeitsstelle als Dienstmädchen in
einem jüdischen Geschäftshaushalt in Emden angetreten. Sie
wurde dort von den Ereignissen überrascht und war heilfroh, dass
ihre Mutter sie bald von dort wieder zu sich nach Leer holte.
In den jüdischen Geschäften und Wohnhäusern machten sich
SA-und HJ-Horden zu schaffen und hinterließen in den meisten
Fällen ein "Schlachtfeld".
Auch bei den Grünbergs in der Reimerstraße und in der Bremer
Straße erschienen SA-Leute und konfiszierten alles, was irgendwie
ein bisschen wertvoll aussah: silberne Bestecke, Silber- und
Zinnbecher, Armbänder, eine Kaffeekanne, ein Radio, 900 RM in bar
und zwei Sparbücher, die aber fast kein Guthaben mehr aufwiesen.
Die Frauen, die Kinder und die gebrechlichen alten Männer
ließ man im Laufe des 10. November nach Hause gehen. Die
übrigen 56 Männer wurden im Viehhof in den Schweinestall
gesperrt und am nächsten Tag, dem 11. 11. 1938, zusammen mit den
Männern der übrigen jüdischen Gemeinden aus der Umgebung
in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert. Unter ihnen
waren auch Alfred und Bernhard Weinberg und ihre
Grünberg-Schwagern.
Karl Polak, der den Holocaust überlebt hat und im Herbst 1945 nach
Leer zurückkehrte, berichtete später darüber:
"Am Nachmittag kamen Viehwaggons. Wir wurden wie Vieh mit Schlägen
hineingetrieben, und dann setzte sich der Zug in Richtung Oldenburg,
etwa 60 km entfernt, in Bewegung. Dort durchfuhren wir den Bahnhof und
hielten irgendwo auf den Geleisen. Von ferne sahen wir ein großes
Gebäude, das aussah wie eine Schule oder eine Kaserne, und auf dem
Hof davor sehr viele Menschen, offenbar zusammengetrieben aus dem
ganzen Bezirk. Ihr Anblick war jammervoll. Niemand von uns wußte
den Grund für diese Massenverhaftungen, noch was man mit uns
vorhatte. Wir waren in absoluter Unkenntnis und Hoffnungslosigkeit.
Aber ich erblickte unter den vielen Gesichtern das meines Onkels Jakob
aus Oldersum, er war ein Bruder meines Vaters.
Unablässig trafen neue Wachmannschaften ein, an den Zug wurden
immer neue Waggons gekoppelt; zwischendurch erhielten wir etwas
Kommißbrot. Dann brüllten unsere Wächter Befehle, so
daß unsere Leute immer unruhiger wurden. Besonders die
Älteren litten unter dieser Behandlung und fielen beinahe um.
Einer von ihnen war mein Onkel Jakob, Schwerbeschädigter aus dem
ersten Weltkrieg. Er hatte noch Granatsplitter im Körper, die
nicht hatten entfernt werden können und die machten ihm immer noch
Beschwerden.
In der folgenden Nacht setzte sich der endlose Zug in Bewegung, immer
noch unter strenger Bewachung. Stundenlang rollten wir, nach unserer
Meinung in östliche Richtung, mit langen Aufenthalten auf
Ausweichgeleisen. Flucht war unmöglich; denn unsere Bewacher waren
bewaffnet, außerdem hätten nur wenige von uns dazu noch die
Kraft gehabt.Endlich, nach vielen Aufenthalten und Rangierereien, hielt
der Zug. Ich dachte, wir wären in der Umgebung von Berlin, und das
erwies sich dann auch als richtig. Die Türen der Waggons wurden
brutal aufgerissen, und wir sahen eine große Anzahl von SS-Leuten
auf uns zukommen; sie waren mit Reitpeitschen bewaffnet und hatten
Hunde bei sich. Einige brüllten: "Kommt raus, ihr dreckigen
Judenschweine, los, lauft! Beeilung!" Wir glaubten, die Welt ginge
unter. Die Älteren von uns stolperten beim Sprung aus dem Waggon,
und dann wurden sie heftig angeschnauzt. Die SS-Leute schlugen auf sie
ein, hetzten ihre Hunde auf sie und ließen diese zubeißen.
Ein alter Mann, Herr Sally Löwenstein, fiel tot um. Wir anderen
liefen, immer von den SS-Leuten getrieben, in ein Barackenlager, das
von einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umgeben war; es war das
Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg. Über dem
Eingangstor standen die Worte zu lesen: "Arbeit macht frei!"
Wir mußten auf einem großen Platz in Fünferreihen
antreten, und dort haben wir zwanzig Stunden lang gestanden. Viele
brachen zusammen und blieben leblos am Boden liegen. Während
dieser Zeit fragte die SS jeden nach seinem Beruf. Diejenigen, die
einen freien Beruf angaben, der womöglich noch ein langes Studium
erfordert, etwa Ingenieur oder Rechtsanwalt, erhielten einen besonderen
Denkzettel in Form von Fuß
tritten und Faustschlägen. Einen von uns fragte ein SS-Mann: "Bist
du Rabbiner?" "Nein, ich bin Lehrer." "Ein stinkiger Jude bist du!"
brüllte der zurück. Der Unglückliche mußte
unter den Schlägen des SS-Mannes mit lauter Stimme mehrmals
wiederholen: "Ich bin ein stinkiger Jude."
Ein alter Mann fiel ohnmächtig um. Ein SS-Mann trat herzu,
versetzte ihm einige Stiefeltritte und sagte: "Steh' auf, du bist hier
nicht im Sanatorium!" Aber der Mann blieb leblos, trotz der Tritte.
Nach einer Stunde wurde er auf einer Bahre fortgetragen; er war schon
lange tot. - Ich berichte hier nur über Vorfälle, die ich
selbst aus der Nähe beobachten konnte; aber man könnte ein
ganzes Buch nur über unseren Empfang und unseren Aufenthalt in
Sachsenhausen schreiben.
Bevor wir in die Baracken eintreten durften, wurden uns die Haare
geschoren; unsere persönlichen Sachen wurden uns abgenommen und in
einem namentlich gezeichneten Säckchen verschlossen. Dann
erhielten wir Gefangenenkleider mit einer aufgenähten Zahl.
Während der drei Monate, die ich in Sachsenhausen verbrachte, habe
ich viel Leid gesehen. Morgens wurden - nach endlosen Zählappellen
- die Arbeitsfähigen an den Arbeitsplatz gebracht. Es war Winter
und bitterkalt. Die Älteren erstarrten bei dem Frost und wurden
krank. Ich mußte mit einer Gruppe von Leidensgefährten in
einer Hafenanlage arbeiten. Dort waren Kähne zu entladen, die mit
Steinen, Zementsäcken und Ziegelsteinen beladen waren. Wer sich
ungeschickt anstellte oder zu schwach war, wurde von der SS-Wache in
den Kanal geworfen und mußte anschließend den ganzen Tag in
den nassen Kleidern arbeiten. Das löste vielerlei Erkrankungen
aus, die oft tödlich ausgingen. Auch innerhalb des Lagers waren
gewerbliche Werkstätten, in denen Häftlinge von uns
eingesetzt wurden. Dort war die Arbeit etwas leichter, doch auch nicht
ohne Schikanen.
Nach ungefähr zwei Wochen wurden die ersten Gefangenen, die
zusammen mit mir angekommen waren, entlassen. Bis Ende
Dezember erhielten die Älteren, besonders die ehemaligen
Weltkriegsteilnehmer, eine gewisse "Freiheit" zurück. Zu diesen
gehörten auch mein Vater und mein Onkel; beide hatten sehr unter
der Haft gelitten. Mein Vater hatte Erfrierungen an Händen und
Füßen; auch mein Onkel war von den Mißhandlungen
gezeichnet. Für mich war es eine Erleichterung zu wissen,
daß ich als Einziger von meiner Familie in diesem Lager blieb.
Wer das Lager verließ, mußte sich bei der "politischen
Abteilung" durch Unterschrift verpflichten, nichts von dem zu
enthüllen, was er gesehen, gehört oder erlitten hatte. Mir
persönlich wurde bei der Entlassung bedeutet, daß ein Bruch
dieses Verbots eine mehrjährige Haftstrafe zur Folge haben
würde. - Man kann sich vorstellen, mit welcher Vorsicht wir uns
bewegen mußten, als wir wieder zu Hause waren."
Soweit der Bericht von Karl Polak.
Die meisten Gefangenen kamen nach und nach frei. Etliche
ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer
überlebten diese Zeit nicht. Karl Polak wurde am 9. Februar 1939
entlassen. Die letzten Leeraner Juden kamen erst Ende Februar wieder
nach Hause, unter ihnen auch Alfred Weinberg.
Die zurückgebliebenen Frauen und Kinder standen nach der
Pogromnacht ziemlich mittellos da. Abgesehen von der Tatsache, dass sie
auf eigene Rechnung dafür zu sorgen hatten, die Spuren der
Plünderungen und Zerstörungen zu beseitigen, wurde allen
Juden eine "Schuld" von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, angeblich
für die Unkosten, die durch den organisierten "Volkszorn"
entstanden waren. Aus diesem Grunde wurden im Laufe der nächsten
Wochen die restlichen jüdischen Häuser "zwangsarisiert", auch
die Häuser der Grünberg-Brüder in Leer und Weener. Den
Verkaufserlös erhielt der Fiskus. Damit die Frauen und Kinder nun
nicht verhungerten, zweigte man auf Anordnung des Bürgermeisters
Drescher vom 22. 11. 1938 von dem beschlagnahmten Geld 500 RM ab und
zahlte ihnen davon hin und wieder kleine
Unterstützungsbeträge von fünf oder zehn Reichsmark aus.
Auch die Weinbergs und Grünbergs erhielten im November je zweimal
zehn bzw. fünf
Reichsmark.
Mehreren jüdischen Familien wurde nach der "Zwangsarisierung"
ihrer Häuser von den neuen Besitzern bald ihre Wohnung
gekündigt, denn für Juden in "arischen" Häusern gab es
laut des Gesetzes über "Mietverhältnisse mit Juden" vom 30.
April 1939 keinen Kündigungsschutz mehr. Sie konnten nur noch in
ganz wenigen Häusern, sogenannten "Judenhäusern",
unterkommen, die die Stadt zu diesem Zweck einstweilen noch in
jüdischem Besitz belassen hatte. Hier herrschte bald drangvolle
Enge. Auch waren die Kommunen und Landkreise gehalten, einmal monatlich
Listen an die Bezirksregierung zu schicken mit allen Um-, Ab- und
Anmeldungen der noch verbliebenen Juden.
Im Sommer 1939 musste auch die jüdische Schule in Leer ihre
Pforten endgültig schließen, denn der NS-Staat wollte nicht
mehr für die laufenden Kosten aufkommen und auch den Lehrer nicht
mehr bezahlen. Laut Verordnung vom 4. Juli 1939 war dafür jetzt
die Reichsvereinigung der Juden zuständig. Die Mitgliedschaft in
dieser Reichsvereinigung, die eine zwangsweise Zusammenfassung aller
jüdischen Gemeinden darstellte, war für alle Juden und
ehemalige Juden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen obligatorisch.
Die jüdische Gemeinde in Leer und ihre Mitglieder hatten nach den
Ereignissen der "Kristallnacht" für den Unterhalt ihrer Schule
jedoch keine Mittel mehr. Der letzte jüdische Lehrer, Seligmann
Hirschberg, musste mit seiner Familie die Dienstwohnung verlassen und
sich nach einer anderen Verdienstmöglichkeit umsehen. Das
Schulgebäude ging in den Besitz der Stadt Leer über. Für
den Sabbat-Gottesdienst, den man nach der Zerstörung der Synagoge
in der Schule gefeiert hatte, wurde in dem ehemaligen koscheren
Restaurant in der Kampstraße ein bescheidener Ersatz
hergerichtet.
Zu dem alltäglichen Kampf der jüdischen Eltern um
Lebensunterhalt und Unterkunft, sowie zu der Angst vor
gewalttätigen Übergriffen der NS-Organisationen, gesellten
sich nun auch noch die Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Für sie
wurde der Alltag in Leer immer unerträglicher. Sie konnten nicht
mehr zur Schule gehen, und in den viel zu kleinen Wohnungen gab es
keinen Platz zum Spielen. Sie durften nicht mehr in den Julianenpark
und in den Inselgarten auf der Nesse oder auf den Plytenberg. Sie
konnten weder auf den Sportplatz, noch in die Badeanstalt an der
Georgstraße, noch auf den Spielplatz oder in den Zoo bei "Onkel
Heini" in Logabirum. Auch im Kino oder auf dem Gallimarkt durften sie
sich nicht mehr sehen lassen. Überall standen Schilder "KEIN
ZUTRITT FÜR JUDEN", und auch in fast allen Geschäften waren
Juden unerwünscht. Viele Kinder und Jugendliche trauten sich kaum
noch auf die Straße.
Um dem trostlosen Leeraner Alltag zu entgehen und um wenigstens
irgendeine Art Ausbildung zu absolvieren, bemühten sich die
meisten Jugendlichen um einen Platz in einer Ausbildungsstätte des
Chalutz Verbandes. Diese internationale Organisation unterhielt
europaweit Einrichtungen, die junge Leute auf ein Leben in
Palästina vorbereiteten. Die Jugendlichen wurden dort in
handwerklichen Fertigkeiten, in der Landwirtschaft, im Gartenbau und in
mehreren Sprachen ausgebildet. Eine solche Gartenbauschule gab es z.B.
in Ahlem bei Hannover. Dorthin ging Dieter Weinberg am 14. Dezember
1938, nachdem er um die Jahreswende 1937/38 schon ein paar Wochen lang
vergeblich versucht hatte, in Berlin Fuß zu fassen.
Durch die Unterstützung des Reichsbundes der Jüdischen
Frontsoldaten, dem Alfred Weinberg als Weltkriegsteilnehmer
angehörte, gelang es Friedel und Albrecht, am 29. April 1939 in
das Jugendlager Groß Breesen bei Guben an der Oder aufgenommen zu
werden. Die Ausbildungsstätte war in einem ehemaligen Gutshof mit
wunderschöner Umgebung untergebracht. Vierzehn- bis
achtzehnjährige Jugendliche wurden dort in der Landwirtschaft
ausgebildet. Da Friedel und Albrecht hier unter lauter jüdischen
jungen Leuten waren, fühlten sie sich nach langer Zeit endlich
wieder frei und unbeschwert. Einige Freundschaften, die sie damals dort
geschlossen haben, bestehen heute noch. Im Februar 1940, als alle Juden
Ostfriesland verlassen mussten, kam auch ihr Cousin August
Grünberg aus der Bremer Straße 14a noch dorthin.
Alfred und Flora Weinberg mussten im Sommer 1939 die Wohnung in der
Bremer Straße 62 bei Polaks aufgeben und wechselten am 6. Juli in
die Reimerstraße 6 zu ihren Verwandten Philipp und Angelica
Grünberg. Doch nach Beginn des II. Weltkrieges am 1. September
1939 gab es für die noch in Leer verbliebenen Juden bald eine neue
Hiobsbotschaft: Im Januar 1940 beschloss die Gestapo-Leitstelle in
Wilhelmshaven, die für das hiesige Gebiet zuständig war,
Ostfriesland als "Grenzgebiet zum Feindesland" von potentiellen Spionen
zu säubern. Da Juden per se als Feinde des deutschen Volkes
galten, beauftragte man den Auricher Synagogenvorsteher Wolffs, bzw.
dessen Sohn, dafür Sorge zu tragen, dass alle Juden Ostfrieslands
sich bis zum 1. April 1940 einen neuen Wohnsitz außerhalb
Ostfrieslands suchten. Wer keine neue Bleibe fand, musste sich den
organisierten Transporten nach Berlin anschließen.
Mit einem dieser Transporte verließen auch Alfred und Flora
Weinberg die Reimerstraße in Leer am 16. 2. 1940 in Richtung
Berlin. Sie durften nur wenig Gepäck mitnehmen und wurden in
Alt-Moabit, Charlottenburg, in einem sogenannten "Judenhaus"in der
Kirchstraße 22 untergebracht. Jede Familie hatte dort nur ein
Zimmer zur Verfügung. Hatten die Weinbergs in Leer oder Weener
während der mageren letzten Jahre immer noch ein paar
nichtjüdische Bekannte gehabt, von denen sie ein wenig
Unterstützung erhoffen konnten, so war ihnen hier in Berlin alles
fremd. Da die Versorgung mit Lebensmitteln erbärmlich war, freute
sich Flora Weinberg, dass ihre ehemalige Nachbarin Ruth Zimmermann aus
Weener sie nicht vergessen hatte und ab und zu ein Päckchen mit
Nahrungsmitteln schickte oder auch ein paar Abschnitte einer
Lebensmittelkarte. Auf ihrer Karte vom Februar 1943 bedankte sich Frau
Flora für die "Bildchen", die sie von Ruth bekommen hatte, "sie
waren sehr angebracht."
Alfred Weinberg wurde bald zur Arbeit in einer Fabrik eingeteilt. Zum
Glück gab es dort auch ein paar nette Kollegen, die auf ihn
Rücksicht nahmen, denn die ungewohnte Arbeit ging ihm in seinem
Alter nicht mehr leicht von der Hand.
Im Februar 1941 wurde das Jugendlager in Groß Breesen
aufgelöst. Es hatte seit Beginn des Krieges zwar schon unter der
offiziellen Leitung der Gestapo gestanden, aber die interne
Organisation war noch in jüdischer Hand geblieben. Friedel und
Albrecht Weinberg wurden jetzt mit ihren jugendlichen Kolleginnen und
Kollegen in ein Zwangsarbeitslager für Juden nach Wulkow gebracht.
Dieses Lager unterstand dem Reichssicherheitshauptamt und lag in
Brandenburg in der Nähe von Neuruppin in einem Wald. Sie wurden in
Baracken untergebracht und bekamen nur wenig zu essen. Sie mussten
zwölf Stunden am Tag Grubenholz schneiden. Manchmal wurden sie
auch abkommandiert, um Kohlen oder Briketts auszuladen oder um an
Wochenenden irgendwelchen Nazibonzen aus Berlin bei der Treibjagd
behilflich zu sein.
Da Wulkow nicht allzuweit von Berlin entfernt lag, verließen
Friedel und Albrecht einige Male heimlich das Lager und fuhren mit der
Eisenbahn und der S-Bahn nach Berlin zu ihren Eltern. Das war
natürlich streng verboten, aber die beiden wagten es trotzdem.
"Wir hatten ja nichts mehr zu verlieren. Ein schlechteres Leben als im
Lager Wulkow konnten wir uns damals kaum vorstellen," sagen die
Geschwister heute. Dabei standen sie jedesmal Todesängste aus und
gaben sich unterwegs alle Mühe, nicht aufzufallen. Ihren gelben
Stern, den sie seit 1941 tragen mussten, verbargen sie, indem sie die
Jacken umdrehten. Als sie ihre Eltern etwa Ende Februar 1943 zum
letzten Mal trafen, war Dieter kurz vorher schon abgeholt worden.
Dieter Weinberg muss 1941/42 zu seinen Eltern nach Berlin gekommen
sein. Die Gartenbauschule in Ahlem bei Hannover, wo er eine Ausbildung
erhielt, wurde während dieser Zeit geschlossen und zur zentralen
Sammelstelle aller Juden aus den Regierungsbezirken Hannover und
Hildesheim umfunktioniert. In Berlin wurde Dieter wie sein Vater zur
Zwangsarbeit in einer Fabrik verpflichtet.
Schon seit Oktober 1941 wurden von Berlin Juden deportiert: Zuerst in
das Ghetto nach Lodz, ab 1942, nach der Wannsee-Konferenz, nach Riga,
Minsk und Kowno. Auch nach Theresienstadt und Auschwitz gab es im Laufe
des Jahres von Berlin aus etliche Transporte. Die großen
Massendeportationen von Berlin nach Auschwitz setzten im Februar 1943
ein. In einem dieser Güterwaggons saß auch Dieter Weinberg.
Er wurde direkt von der Arbeitsstelle aus in den Zug verbracht, ohne
die Eltern benachrichtigen oder sich von ihnen verabschieden zu
können, wie seine Mutter Flora ein paar Tage später auf einer
Postkarte ihrer ehemaligen Nachbarin Ruth Zimmermann in Weener
mitteilte.
Alfred und Flora Weinberg selbst wurden am 17. März 1943 nach
Theresienstadt deportiert, denn Alfred Weinberg war als Soldat im I.
Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, so dass das
Ehepaar in das Lager für Privilegierte verbracht wurde. Doch auch
von dort gingen ab und zu Transporte nach Auschwitz, wenn das Lager in
Theresienstadt zu voll wurde. Wo und wann genau ihre Eltern umgekommen
sind, wissen Friedel und Albrecht bis heute nicht. Im Jahre 1944
erhielt Friedel in Auschwitz ein einziges Mal eine Karte von ihrer
Mutter aus Theresienstadt, seitdem haben sie nichts mehr von ihren
Eltern gehört.
Im März 1943 wurden in und um Berlin alle Juden aus den kleinen
Arbeitslagern herausgeholt und nach Berlin verfrachtet. Friedel und
Albrecht wurden dort in die Hamburger Straße verbracht und von da
aus am 19./20. April 1943 gemeinsam mit fast tausend Leidensgenossen
mit mehreren Möbelwagen zum Bahnhof Grunewald gefahren, wo die
Transporte nach Auschwitz ihren Anfang nahmen.
Da Friedel und Albrecht Weinberg für arbeitstauglich gehalten
wurden, entgingen sie glücklicherweise bei der "Selektion" an der
"Rampe" in Birkenau den Gaskammern und wurden dort einem Lager
zugewiesen wie zuvor schon ihr Bruder Dieter. Albrecht musste dort
während der nächsten eineinhalb Jahre bei IG Farben
Treibstoff produzieren. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren
unmenschlich und der Tod war allgegenwärtig. Während der
ganzen Zeit in Auschwitz hatten die drei Geschwister keinen Kontakt.
"Ich habe Dieter ein einziges Mal bei einem Appell gesehen, als ich
etwa vier Monate im KZ war", erinnert sich Albrecht.
Friedel arbeitete lange Zeit im Stabsgebäude der SS. Dort hatte
sie Einblick in die Todeslisten und wusste somit, dass ihre Brüder
wahrscheinlich noch am Leben waren, da deren Nummern nicht
aufgeführt waren.
Als sie Diphterie bekam und ins Krankenrevier musste, hatte sie mit dem
Leben schon fast abgeschlossen. Dreimal fand dort eine Selektion statt,
die der berüchtigte KZ-Arzt Dr. Mengele höchstpersönlich
vornahm. "Wir mussten uns nackt ausziehen und an ihm und zwei anderen
Doktoren vorbeilaufen. Nur wer keine Krätze und Geschwüre
hatte und für die Arbeit im Lager nicht zu schwach erschien,
durfte bleiben, alle andern gingen ins Gas," erzählt Friedel. Vor
einer weiteren Selektion hatte ihre Aufseherin sie gerade aus dem
Krankenrevier wieder in die Arbeitsbaracke geholt. "Es ist
verrückt, durch welche Zufälle man überlebt hat."
Im Herbst 1944 wurde Albrecht Weinberg mit vielen anderen in das KZ
Dora-Mittelbau bei Nordhausen in Thüringen verlegt, dort war in
einem Stollensystem u.a. die Produktion für die V-2-Raketen
angelaufen. Die Behandlung war hier besonders brutal. Es gab kaum noch
etwas zu essen. Die Bewacher und oft auch das technische Personal
trieben besonders die jüdischen Häftlinge in
Zwölf-Stunden-Schichten ununterbrochen zur Arbeit an. Wer nicht
mehr mithalten konnte, wurde ins Kz Auschwitz und ab Anfang 1945 ins KZ
Mauthausen geschickt. Im KZ Dora-Mittelbau fand die Vernichtung durch
Arbeit in der extremsten Form statt.
Am 1. April 1945 begann die SS mit der Räumung des Lagers. Der
"Todesmarsch" ging in das etwa 300 km entfernte KZ Bergen-Belsen.
Unterwegs kamen noch Tausende um oder wurden ermordet. "Wer nicht mehr
gehen konnte, wurde erschossen oder erschlagen. Wir haben während
der kurzen Marschpausen auf den Leichen am Wegrand gesessen, um uns
auszuruhen", berichtet Albrecht. Er erreichte dann schließlich
mit seinen Leidensgenossen das KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger
Heide.
Doch dort war das Elend noch nicht zu Ende, denn infolge der
Überfüllung gab es weder Unterkünfte, noch
Nahrungsmittel, noch Trinkwasser für die schier unzähligen
Neuankömmlinge. Tausende starben in den folgenden Wochen an
Entkräftung und an Typhus, der seit Januar im Lager grassierte.
Wie schlimm es im KZ Bergen-Belsen zuletzt war, lässt sich aus der
Bemerkung einer Holocaustüberlebenden erahnen, die gegen
Kriegsende von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. Die alte Dame sagte
während der Eröffnung des neuen Dokumentationszentrums in
Bergen-Belsen am 28. Oktober 2007: "Gegenüber Bergen-Belsen war
Auschwitz das Paradies."
Tröstlich war für Albrecht, dass er hier seine Geschwister
Dieter und Friedel wiedertraf. Sie waren auch auf "Todesmärschen"
über mehrere Stationen nach hier gelangt. Friedel war
zwischenzeitlich noch einige Zeit im KZ Ravensbrück gewesen. Am
15. April 1945 wurde Bergen-Belsen endlich von den Engländern
befreit.
Nach Kriegsende machten sich die Geschwister auf die Suche nach ihren
Eltern. Zuerst wandten sie sich nach Berlin, da sie verabredet hatten,
sich dort zu treffen, "wenn alles vorbei wäre". Sie suchten dort
unter anderem nach Salomon de Vries. Der war mit seiner
nichtjüdischen Frau Mena und den drei Kindern 1940 freiwillig nach
Berlin gezogen und für viele Leeraner Juden in Berlin im Laufe der
Zeit "ein Link zur Außenwelt" geworden. Er hatte zeitweise auch
die Post der Weinbergs weitergeleitet. Sie hofften, bei seiner Familie
etwas über die Eltern zu erfahren. Doch in Berlin fanden sie keine
Bekannten mehr, sondern überall nur noch Trümmer.
Da die Weinberg-Geschwister vermuteten, dass Familie de Vries wieder
nach Leer zurückgekehrt war, machten sie sich auch auf den Weg in
ihre alte Heimat.
Sie erhielten in Leer eine Wohnung in der Brunnenstraße 11
zugeteilt. Nach und nach erfuhren sie, dass nicht nur ihre Eltern den
Holocaust nicht überlebt hatten, sondern dass auch ihre Onkel und
Tanten umgekommen waren. Nur ihre Tante Maria Cohen und einige Cousins
und Cousinen waren noch am Leben.
Dieter, Friedel und Albrecht Weinberg standen jetzt praktisch vor dem
Nichts wie so viele in dem desolaten Nachkriegsdeutschland. Da alle mit
dem eigenen täglichen Überlebenskampf beschäftigt waren,
konnten die Weinberg-Geschwister kaum Anteilnahme und
Unterstützung erwarten. Obgleich sie von offiziellen Stellen
freundlich und zuvorkommend behandelt wurden, wollten im Alltag viele
Leute nichts von ihnen wissen.
Die meisten waren verunsichert und wussten nicht, wie sie sich ihnen
gegenüber verhalten sollten. Außerdem war der über ein
Jahrzehnt lang propagierte Antisemitismus ja auch nicht über Nacht
aus den Köpfen verschwunden.
Nur mühsam gewöhnten sich die Weinberg-Geschwister wieder an
ein "normales" Leben. "Im KZ reduziert man seine Instinkte und
Begierden auf den Überlebenswillen", meinte Albrecht, "wir sind
als halbe Kinder ins Lager hinein- und als Monster wieder
herausgekommen." Die Bilder und Erlebnisse aus dem KZ sind über
all die Jahre bis heute nicht aus ihrem Kopf verschwunden.
Mit ihrem angeheirateten Vetter, dem Arzt Dr. Philipp Mayring aus
Collinghorst, der mit Cousine Rosa Löwenstein aus Weener
verehelicht war, besuchten Dieter und Albrecht noch einmal ihre alten
Nachbarn Brunsema in Westrhauderfehn. Auch musste der jetztige Besitzer
ihres früheren Hauses am Untenende, Harm Schaa, den Rest der
Kaufsumme und die aufgelaufenen Zinsen noch bezahlen. Jedoch konnte man
in den Zeiten des Tauschhandels und der "Zigarettenwährung" mit
Bargeld nur wenig anfangen.
Am 13. Oktober 1946 traf die Geschwister ein neuer Schicksalsschlag:
Dieter Weinberg verunglückte tödlich im Breinermoorer
Hammrich. Um seinen Tod ranken sich etliche Gerüchte. Laut
Johannes Röskamp erlag er einem Herzschlag; Johann Korrelvink
berichtet, dass er beim Angeln in das Sieltief gefallen und ertrunken
sei. Beerdigt wurde Dieter Weinberg auf dem jüdischen Friedhof in
Leer am Schleusenweg (Grab Nr. 227). Auf seinem Grabstein ist vermerkt,
dass er ein Holocaust Survivor war.
Nach Dieters Tod hielt Friedel und Albrecht Weinberg nichts mehr in
Leer. Sie beschlossen, möglichst weit weg von Deutschland ein
neues Leben zu beginnen. Nachdem sie viele Monate auf gepackten
Pappkoffern in Zeilsheim, einem DP-Lager in der Nähe von
Frankfurt/Main verbracht hatten, wanderten sie nach New York aus. Die
meisten ihrer überlebenden Cousins und Cousinen ließen sich
in Holland nieder, ein paar auch in den USA. Cousine Ruth Heilbronn aus
Lingen zog nach England und Vetter Arthur Grünberg aus der
Reimerstraße wohnt heute in Australien.
Schon in den frühen fünfziger Jahren weilten Friedel und
Albrecht Weinberg ab und an bei ihren Verwandten in Holland. Nach Leer
kamen sie 1985 und 1995 anlässlich der Einladung der
überlebenden ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt. Bei
diesen Gelegenheiten besuchten sie auch kurz
Westrhauderfehn.
Im Jahre 1996 endlich kamen sie auf Einladung der Gemeinde Rhauderfehn
für eine Woche nach Westrhauderfehn. Sie wohnten während der
Zeit in Leer. Albrecht und Friedel Weinberg legten Wert darauf, mit der
Jugend ins Gespräch zu kommen. Sie diskutierten mit
Realschülern in der Kreisrealschule Overledingerland und mit
Jugendlichen vom Arbeitskreis Schule in Burlage. Sie beantworteten
Fragen auf einer großen öffentlichen
Informationsveranstaltung im Rathaus Rhauderfehn und folgten einigen
Spuren ihrer Kindheit. So nahmen sie unter anderem an einer
Einschulungsfeier in der Sundermannschule teil.
Zwei Jahre später kamen Friedel und Albrecht Weinberg erneut aus
New York angereist, um am 3. September 1998 im Beisein der Oldenburger
Rabbinerin Lea Wyler und zahlreicher lokaler Prominenz in
Westrhauderfehn auf dem Ehrenfriedhof an der 1. Südwieke einen
Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft
zu enthüllen.
Am 7. März 2006 beschloss der Rhauderfehner Gemeinderat nach
Rücksprache mit Friedel und Albrecht Weinberg, den Abschnitt des
Hagiusrings, der am Ehrenfriedhof vorbeiführt, in
"Geschwister-Weinberg-Straße" umzubenennen.
Im Juli 2007 reisten sie zum dritten Treffen ehemaliger jüdischer
Bürger nach Leer und beehrten anschließend noch einmal die
Gemeinde Rhauderfehn mit einem einwöchigen Besuch.
So gibt es zwischen den letzten beiden Fehntjer Juden und ihrem
früheren Heimatort, der sie 1936 loswerden wollte, doch wieder
versöhnliche Gesten.
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