Das älteste Pfarrhaus Niedersachsens vom Abriß bedroht

von

Christian Meyer, Pastor i. R., Up de Gast 4, 26409 Wittmund, Tel.: 04462/5656

(Stand: 5.2.2012)

 

   Das Engerhafer Pfarrhaus in Südbrookmerland, Kirchwyk 5, ist wahrscheinlich das älteste Pfarrhaus der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Mit dem Steinhaus in Bunderhee und dem Ulfertschen Hof in Upgant-Schott zählt es zu den drei ältesten Wohnhäusern in Ostfriesland. Vom Typ her muß man es zu den "Krüsselwarken" rechnen, einer mittelalterlichen Sonderform des friesischen Bauernhauses. Kennzeichnend dafür ist die Kopf-Hals-Rumpf-Bauweise, deren Firste ein T bilden.

   Das Engerhafer Pfarrhaus dürfte bald nach 1250 nach dem Zustandekommen des Sühnevertrages mit Bischof Otto II von Münster erbaut worden sein. Er ordnete das Kirchenwesen im damaligen Brookmerland neu und beauftragte damit einen Offizialen, dem das Pfarrhaus in Engerhafe als Residenz zugewiesen wurde. Dafür spricht, daß es mit Privilegien ausgestattet wurde, die sonst nur Adelshäusern und Klöstern vorbehalten waren, nämlich das Errichten von Taubenhäusern und das Anlegen von Fischteichen, die erst 1946 verfüllt wurden. Für diese frühe Erbauungszeit spricht, daß Steinhäuser um 1270 bereits in den Brookmer Willküren erwähnt werden, und daß an der Kirche in Marienhafe ein solches Haus abgebildet war (um 1270 -80).

   Vom ursprünglichen Bau sind der mit böhmischen Kappen gewölbte Keller erhalten, sowie große Teile des aufgehenden Mauerwerks im vorderen Teil.

   Bei Ausgrabungen im Keller wurde 2011 ein Brunnen entdeckt, der bereits verfüllt gewesen sein muß, als das Steinhaus darüber errichtet wurde. In der Verfüllung wurden weder Mörtelreste noch Bruchstücke von Backsteinen entdeckt, dafür aber Scherben von Noppengläsern aus der Karolingerzeit (8. - 9. Jh.).

   Die drei Geschosse bestanden ursprünglich aus je einem einzigen Raum. Diese Räume konnten vom angrenzenden Halsteil der Anlage aus betreten werden. Das obere Stockwerk und der Keller hatten außerdem im Ostgiebel eigene Zugänge, zu denen man über Außentreppen gelangen konnte. In der Nordostecke führte innen eine Treppenanlage vom Keller durch alle Stockwerke nach oben. Noch im 13. Jh. erfolgte eine erste bauliche Veränderung. Die beiden oberen Etagen wurden durch eine Wand in der Mitte geteilt, so daß vier Räume entstanden. Im Keller wurde eine Rundsäule eingefügt, um die Last dieser Wand zu tragen. In der Mitte des 15. Jh. wurde das Vorderhaus um die Breite eines Kellerjochs nach Westen hin erweitert. Der neu aufgeführte Westgiebel wurde mit Kaminanlagen versehen. Auch am Ostgiebel wurde ein Schornstein hochgezogen, um die beiden neu angelegten Kamine zu versorgen. Später wurde durch eine Trennwand im Keller aus den beiden westlichen Jochen ein besonderer Raum geschaffen, dessen Bedeutung unbekannt ist. Noch vor 1500 wurde die Tür zu diesem Raum zugemauert, nachdem man ihn mit Bauschutt halb verfüllt hatte.

   Nach Einführung der Reformation um 1535 wurden das Dach des Querhauses sowie alle Decken und Balken ausgetauscht und erneuert. Das haben dendrochronologische Untersuchungen ergeben. Ob die Anordnung der einachsigen Fenster damals oder bereits um 1450 geschaffen wurde, läßt sich nur schwer beantworten. Für eine Zuordung in die Mitte des 15. Jh. spricht ihre völlige Schmucklosigkeit. Die bis vor kurzem noch vorhanden gewesenen Innenblenden sind zumindest im östlichen Zimmer der Zeit der Renaissance zuzuordnen. Hier war bis vor kurzem außen auch noch eine Fensterbank aus Sandstein vorhanden, die bei Renovierungsarbeiten entfernt wurde. Die Blenden im westlichen Zimmer bestanden jeweils aus einem einzigen Stück und waren mit schmiedeeisernen Stangen verschließbar. Die Blenden im Ostgiebel zeigen barocke Formen, und befanden sich ursprünglich im hinteren Teil des Hauses. Die wenigen noch vorhandenen Möbel stammen aus dem 17. -19. Jh. Eine barocke Innentür wurde um 1970 aus einem alten Haus in Timmel hierher übergeführt.

   Die schriftlichen Unterlagen der Kirchengemeinde Engerhafe beginnen 1537. In ihnen lassen sich bis 1911 keine größeren Baumaßnahmen für das Pfarrhaus mehr nachweisen. Nur die beiden Giebel des Querhauses wurden 1791 in Form von Glockengiebeln erneuert. Im Jahre 1911 wurden der Hals- und der Rumpfteil des Pfarrhauses abgerissen und neu erbaut. Dabei hielt man sich weitgehend an den überlieferten Grundriß, so daß die Anlage als Krüsselwark erhalten blieb und weiterhin erkennbar ist. In den Neubau flössen die Grundsätze des "Deutschen Werkbundes" mit ein. An der Westseite blieb die barocke Zimmerflucht von vier hintereinander liegenden Wohnräumen erhalten (eine sogenannte Enfilade), wie wir sie in Ostfriesland höchst selten finden.

   Während des 2. Weltkriegs war die Pfarrstelle vakant. Das Pfarrhaus wurde daher mit aus Emden evakuierten Familien belegt. Nach dem Krieg kamen dann noch einige Familien von Heimatvertriebenen hinzu. Das führte zu vielen Eingriffen in die überlieferte Bausubstanz. In dem Maße, wie die hier Untergekommenen eigene Wohnungen fanden, wurden die Räume des Pfarrhauses nach und nach instand gesetzt und der kirchlichen Nutzung wieder zugeführt. Der Keller hatte gegen Ende des Krieges an der Südseite einen von einem Betonrahmen geschützten Außeneinstieg erhalten, um den Bewohnern als Luftschutzkeller dienen zu können. Auf dem Areal nördlich des Pfarrhauses waren von Okt. bis Dez. 1944 Häftlinge des KZ Neuengamme untergebracht. Die hier umgekommenen Häftlinge ruhen in der Südwestecke des Friedhofs bei der Kirche (sehenswerte Gedenkanlage).

   Die veränderten Anforderungen an die Gemeindearbeit der letzten 40 Jahre führten zu weiteren baulichen Veränderungen im Rumpfteil des Hauses.

   Im Jahre 2009 endete die Nutzung als Wohnung für die Inhaber der Pfarrstelle. An anderer Stelle der Gemeinde wurde ein neues Pfarrhaus errichtet, und damit erlosch eine 750 Jahre kontinuierlich erfolgte Nutzung dieses Bauwerks. Über die künftige Nutzung ist das letzte Wort noch nicht ge-sprochen, aber es steht zu befürchten, daß der Hals- und der Rumpfteil der Anlage abgebrochen und durch einen modernen Neubau ersetzt werden. Entsprechende Pläne liegen bereits vor. Es soll noch daraufhingewiesen werden, daß bis 1900 nur wenige hundert Meter weiter östlich des erhal-tenen Pfarrhauses ein zweites von ähnlichem Aussehen und Alter gestanden hat. Es wurde in eine Armenanstalt umgewandelt, die mittlerweile auch nicht mehr besteht. Kurz vor 1900 brannte die sogenannte Hipkenborg (Hof Klugkist) ab, die auch als Krüsselwark bezeichnet wurde. Mit ihr verbrannte eine darin befindliche niederdeutsche Bugenhagenbibel. In einigen weiteren Bauernhäu-sern in Engerhafe lassen sich Reste weiterer Krüsselwerke vermuten. Das Engerhafer Pfarrhaus ist also fast das einzige Relikt eines in Ostfriesland, und vor allem im Brookmerland, weit verbreitet gewesenen mittelalterlichen Haustyps, dessen Erhaltung und Bewahrung Ziel der Denkmalpflege sein sollte.

   Außer in der Hipkenborg lagerte auch im Pfarrhaus einst wertvolles Archivgut. So kann angenommen werden, daß in den beiden Pfarrhäusern von Engerhafe die beiden erhalten gebliebenen Handschriften der Brookmer Willküren aus dem 13./l4. Jh. aufbewahrt wurden. Außerdem wurde hier bis 1935 eine Inkunabel der Buchdruckerkunst des 15. Jh., nämlich der Pentateuchkommentar des mittelalterlichen Theologen Lyra aufbewahrt. Weiter befinden sich hier noch Handschriften der sogenannten Liturgia Engerhovana (Ende 16. Jh.) in zwei voneinander abweichenden Fassungen. In dem Pfarrhaus haben zum Teil namhafte Pastorenfamilien gewohnt, u. a. Reershemius, oder Oepke. Im 15. Jh. wohnte hier der Pfarrer Almer, der als Berater und Kanzler für die mächtige Häuptlingsfamilie der tom Brook tätig war.

   Zusammen mit der St.-Johannes-d.-Täufer-Kirche (13. Jh.), dem Glockenturm (13. Jh.), dem Gulfhof Ihnen (18./19.Jh.) und der Gedenkstätte für das KZ gehört das Pfarrhaus zu einem einzigartigen historischen Ensemble von überregionaler historischer und kunstgeschichtlicher Bedeutung. Dem sollte die künftige Nutzung neben den Belangen der kirchlichen Gemeindearbeit Rechnung tragen.